Na, das ist doch mal ein schönes Thema
Tatsächlich würde fast jeder auffallen, wenn er im nächsten Dorf wäre, außer man übernimmt Baers Konzept. Denkt mal an viel fundamentalere Dinge. Wenn ihr nicht unbedingt eure Körperhygiene vernachlässigt, würdet ihr schon allein wegen eurer Geruchslosigkeit im nächsten Ort für Aufmerksamkeit sorgen.
Auch die Körpergröße dürfte - bspw. in meinem Fall - ein Phänomen darstellen, das viele Menschen verwundert zur Kenntnis nehmen. Und vergesst nicht, dass wir in einer konfessionell scharf zugeschnittenen Welt leben, wenn ihr Kontakt aufnehmt, wird man wissen wollen, wie ihr es mit der Religion haltet - wäre nicht schlecht zu wissen, welcher das Dorf angehört, wenn man es sich nicht sofort verscherzen will (wieviele von euch können noch das lateinische Glaubensbekenntnis oder etwas zur Confessio Augustana sagen?).
Was die Sprache angeht: Deutsche Texte des 17. Jahrhunderts sind nicht schwer zu lesen, und verstehen dürfte man es auch - aber nur die Hochsprache! Wie noch in anderen Gebieten Europas spricht man diese nur im offiziellen Rahmen oder im Schriftgebrauch. Gesprochen wird auf dem Land - und auch in der Stadt! - in der normalen Unterhaltung fast ausschließlich Dialekte. Und die ändern sich sehr schnell, weil nicht schriftlich fixiert. Der ripuarische (rheinische) Dialekt war um 1900 noch deutlich näher am Niederländischen und wurde erst danach "verhochdeutscht", in anderen Gebieten sieht es nicht anders aus. Heißt: Die Sprache, die da gesprochen wird, ist selbst für einen versierten Dialektsprecher schwer zu verstehen, da sie sich rasch gewandelt hat und heute so gut wie gar nicht aufgezeichnet ist.
Was das Wahrsagen und Erfinden angeht: wenn jemand eine Dampfmaschine bauen kann unter damaligen Umständen, hat er meinen vollsten Respekt (ich bin leider technisch nicht sonderlich versiert). Wir kennen alle unsere PCs und Espressomaschinen, aber wer kann so eine schon damals nachbauen? Und einfach mal "etwas" erfinden ist schwer, da auch die damaligen Leute einen Nutzen daraus ziehen wollen. Bleiben wir mal bei der Dampfmaschine: Die Erfindung ist natürlich exzellent, aber da wir uns bald inmitten des 30jährigen Krieges befinden, obsolet. Die Ländereien wären viel zu unsicher, um beispielsweise experimentelle Eisenbahnlinien zu errichten. Und der Krieg tobt in der Mitte des 17. Jahrhunderts in fast allen zivilisatorisch hoch entwickelten Gebieten: Im Reich, in Norditalien, den Niederlanden, zwischen Spanien und Frankreich, in England (Bürgerkrieg). In so einer Zeit haben die Herrschenden für Erfindungen weniger übrig als im Frieden.
Auch das Wahrsagen für Herrscher stand zwar hoch im Kurs. Wer etwas von Chemie versteht, kann ja als Schwarzkünstler dem ein oder anderen etwas aufbinden. Wenn er einen Fürsten findet, der ihn schützt, braucht er auch vor der Kirche keine Angst zu haben. Allerdings muss man es so weit erstmal schaffen! Das heißt, Ausbildung nachweisen, Universitätsstudium, einstigen Schwarzmagiermeister. Viele vergessen, dass diese "Berufe" damals teilweise tatsächlich anerkannt und eingetragen waren, wie echte Wissenschaftler - und wenn man sich vorstellt, möchte man auch mal sehen, wo man ausgebildet wurde und als was man gearbeitet hat. Falschzeugnis kann da einen teuer zu stehen kommen.
Ich würde es da mit den Eingangsworten des Kapitäns und Baers allgemeinen Ausführungen halten: vorausgesetzt, wir sind in einem norddeutschen baerendorf (ich gehe mal von Baers Heimat aus), muss man schon auf den Reisen aufpassen. Straßenräuberei wird zwar verfolgt, aber da ist es meist schon zu spät. Und auch die Speisen könnten manch modernem Magen gar nicht bekömmlich sein. Von der Auffälligkeit ganz zu schweigen.
Was mich betrifft: da ich mit Italienisch und Latein doch einen Vorteil habe, mich mit brüchigem Latein als Ausländer auszugeben, und durchaus noch die alte humanistische Schule hinter mir habe, würde mein erster Schritt Richtung Pfarrhaus führen. Anstatt mich im Schlamm zu suhlen, tuts aber eine zerrissene und heruntergekommene Hose
, und das Ausgeben als überfallener Pilger, der auf dem Weg nach Rom war. Als solcher hat man durchaus Recht auf Verköstigung. Da mir mein Empfehlungsschreiben abhanden gekommen ist, bitte ich den Pfarrer, mir ein neues auszustellen, im Gegenzug pilgere ich für ihn dann auch, ganz unentgeltlich (Klüngel war zu allen Zeiten beliebt, besonders weil jeder Dreck am Stecken hatte - der Unterschied zu heute besteht nur darin, dass die damals größere Angst vor dem Fegefeuer hatten).*
-> Hintergrund des Ganzen: um 1620 kann man eigentlich nichts Besseres tun als so schnell wie möglich aus Mitteleuropa zu verschwinden. Weite Teile Deutschlands werden in den nächsten 30 Jahren völlig entvölkert und verheert, und da kann ich in Mittel- oder Nordostitalien ein wahrlich angenehmeres Leben führen. Dort ist die Sprache dann auch näher am heutigen Standard, und als Pilger darf man einen Tag bei seinen Glaubensbrüdern bleiben. So aus dem Bauch heraus würde ich versuchen irgendwo in der Po-Ebene als Landpfarrer unterzukommen und mich dort bedeckt zu halten, soweit es geht. Ach ja, und Schinken und Pasta futtern, und mich mit dem kommunistischen Bürgermeister... aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Der ganze Plan ist natürlich in einem protestantischen Dorf hinfällig. Da könnte bei mir noch die Nummer des überfallenen Studiosus ziehen, bis ich die Pilgernummer im nächsten katholischen Dorf hinter mich bringen kann.
Etwas auswenig gelernte alte humanistische Kultur zog damals immer beim Klerus. Viele Hochstapler operierten so.
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*Das ich nie wieder von mir hören lasse, versteht sich von selbst.